1 „Erst durch das Frauenstimmrecht wird das allgemeine Stimmrecht zu etwas mehr als einer blossen Redensart.“ Dies war eine Kernaussage in dem Beitrag der Frauenrechtlerin und Pädagogin Helene Lange (1848–1930), der im August 1896 in der Zeitschrift „Cosmopolis“ erschien. Der Aufsatz war eines der ersten[1] deutschen Plädoyers, zudem das umfassendste (vgl. Bock 2000: 177), für das „Frauenwahlrecht“, und so lautete auch, ganz schlicht, sein Titel.[2]
2 Doch das Besondere an diesem Fundstück, das zum Zeitpunkt seines Erscheinens weithin rezipiert wurde,[3] ist nicht nur die Tatsache, dass es sich hierbei um eine sehr frühe Forderung nach Frauenwahlrecht von einer „Symbolfigur der deutschen Frauenbewegung“[4] handelt, die den Wahlrechtsdiskurs um die Jahrhundertwende entscheidend beeinflusste (vgl. Bock 1999: 104), sondern auch der Ort, an dem Helene Lange ihr Plädoyer veröffentlichte: die dreisprachige, internationale Zeitschrift „Cosmopolis“, die von 1896 bis 1898 erschien. Ihr wichtiger Anstoß zur Debatte wird also im internationalen Kontext platziert.
3 Dass Helene Lange in ihrem Beitrag auf englisch zitiert, ohne die Passagen zu übersetzen, und lateinische Sentenzen bringt, ist typisch für diese Zeitschrift, die bei den Leserinnen und Lesern ein entsprechendes Bildungsniveau voraussetzte. „Cosmopolis“ wandte sich an ein gebildetes und zahlungskräftiges Publikum, das die Zeitschrift durch ihre Dreisprachigkeit und ihre Verbreitung in Europa und Nordamerika[5] zu erreichen trachtete.[6] Es gab Redaktionen in London, Paris und Berlin. Während des nur dreijährigen Bestehens erschienen in „Cosmopolis“ 679 Beiträge. Diese umfassten unterschiedliche Gattungen, darunter fiktionale Texte, politische Abhandlungen und naturwissenschaftliche Aufsätze. Zudem gab es regelmäßige Chroniken zur Literatur und Literaturkritik, zum Theater und zur Außenpolitik. Diese Chroniken verfassten ausschließlich männliche Autoren; auch alle Leitungsfunktionen der Zeitschrift waren mit Männern besetzt.
4 Die Dreisprachigkeit war, obwohl das Zeitschriftenwesen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa florierte und es eine große Zahl von Kulturzeitschriften gab, das Alleinstellungsmerkmal von „Cosmopolis“. Jedes Einzelheft bestand aus rund 300 Seiten. Die Zeitschrift enthielt zu gleichen Anteilen englisch-, französisch- und deutschsprachige Beiträge. Diese erschienen stets getrennt voneinander in der Reihenfolge englisch – französisch – deutsch. Dabei bestand jeder Sprachteil aus eigenständigen Beiträgen, also nicht aus Übersetzungen von Texten aus einem der anderen Teile.
5 Unter den 258 Beitragenden aus einem Dutzend Ländern befanden sich so illustre Personen wie Theodor Fontane, Marie von Ebner-Eschenbach, Anatole France, Jean Jaurès, Henry James und Robert Louis Stevenson. Mindestens 32 Frauen[7] (also etwa ein Achtel der Gesamtbeiträgerzahl) schrieben für „Cosmopolis“. Deren insgesamt über 50 Beiträge repräsentierten zusammengenommen die vielfältigen Themen der Zeitschrift wie auch die kosmopolitischen Biografien, über die viele der Beitragenden verfügten.[8] Wer einen Text für „Cosmopolis“ verfasste, war häufig promovierter Akademiker; viele Beitragende betätigten sich als Publizisten im weitesten Sinne, ob als Schriftsteller, Journalisten oder Gelehrte. Für „Cosmopolis“ schrieben angesehene und ausgezeichnete[9] Persönlichkeiten aus Literatur und Wissenschaft. Konfessionell waren die unterschiedlichsten Gruppen vertreten, in der Zeitschrift erschienen Beiträge von Freimaurern, Katholiken, Protestanten und Atheisten, und an der Präsenz jüdischer Mitarbeiter und zionistischer Beiträger scheinen sich antisemitische Autorinnen und Autoren wie Gyp (d. i. Marie Antoinette Riquetti de Mirabeau, nach ihrer Heirat comtesse de Martel) und Maurice Barrès nicht gestört zu haben.[10] Dies zeigt bereits, dass die Beitragenden von „Cosmopolis“ auch weltanschaulich und politisch ein breites Spektrum abbildeten, das Vertreterinnen und Vertreter der Sozialdemokratie, verschiedener Strömungen des Liberalismus und der französischen katholischen Rechten ebenso umfasste wie Monarchisten, Parlamentarismusgegner, und – auf den ersten Blick erstaunlich für eine „Internationale Revue“ (so der Untertitel von „Cosmopolis“) – Nationalisten. Neben Helene Lange war mit der südafrikanischen Feministin und Schriftstellerin Olive Schreiner (1855–1920) unter den Beitragenden eine weitere Frauenrechtlerin vertreten.[11] Auch der bedeutende britische Suffragist (vgl. Bock 1999: 128, Anm. 48) Sir Charles Dilke schrieb für die Zeitschrift.
6 Die deutsche Ausgabe von „Cosmopolis“ koordinierte Ernst Heilborn, der zum Zeitpunkt des Erscheinens der Zeitschrift Ende Zwanzig und damit bedeutend jünger als die meisten der Beitragenden war. Mit ein Grund dafür, dass er die älteren, renommierten Autorinnen und Autoren für die Zeitschrift gewinnen konnte, waren seine Kontakte in der literarischen Welt, die er durch sein Studium, die Promotion bei dem Germanisten Erich Schmidt und die Mitarbeit bei verschiedenen Periodika hatte knüpfen können. So schrieb Heilborn nicht nur für die liberale Wochenzeitschrift „Die Nation“ des „Cosmopolis“-Beiträgers Theodor Barth, sondern war auch von 1894 bis 1898 bei der Zeitschrift „Die Frau“ angestellt, die Helene Lange seit 1893 herausgab.[12] In der Werbebeilage von „Cosmopolis“, dem „Cosmopolis-Anzeiger“, erschienen Annoncen für „Die Frau“,[13] die als „Organ der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung“ gilt (vgl. Wickert 1982). Als „Cosmopolis“ 1898 in Schwierigkeiten steckte und nach Ansicht Heilborns durch eine Notiz Rudolf Presbers im „Litterarischen Echo“ weiter in Bedrängnis geriet, bat er diesen um eine Gegendarstellung. Diese Bitte formulierte er nicht mehr wie in seiner vorherigen Korrespondenz auf einem Briefbogen der Zeitschrift „Cosmopolis“, sondern auf einem Blatt Papier, das den Kopf „Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. Herausgeberin: Helene Lange. – Verlag: W. Moeser Hofbuchhandlung“ trug.[14]
7 Daher ist zu vermuten, dass die Zusammenarbeit von Helene Lange und Ernst Heilborn bei der Zeitschrift „Die Frau“ zu Langes Beitrag in „Cosmopolis“ führte.[15] Interessanterweise formuliert Helene Lange in diesem Text, abgesehen von der Überschrift, erst auf der fünften Seite explizit, was sie mit ihrem Artikel fordert: „das Frauenstimmrecht (aus dem sich konsequenterweise auch das passive Wahlrecht ergibt)“ (Cosmopolis 3 [1896]: 543, Hervorh. i.O.).
8 Seit Helene Lange 1872 in Berlin das Lehrerinnenexamen abgelegt hatte, stand ihr Leben im „Zeichen des Kampfes für Mädchenbildung durch die Frauen selbst“ (Wickert: 1982). Die Bildungspolitikerin und – als Lehrerin tätige – Bildungspraktikerin Helene Lange ist in dem Beitrag in Aussagen wie der folgenden zu erkennen: „Ueberdies ist in Deutschland der geistige Abstand der Geschlechter – durch den guten Unterricht der Knaben und Jünglinge, den völlig ungenügenden der Mädchen – grösser als anderswo.“ (Cosmopolis 3 [1896]: 550).
9 Lange nimmt in ihrem Aufsatz Bezug auf andere prominente Kulturzeitschriften ihrer Zeit, die ein internationales Publikum besaßen, wie „Nineteenth Century“ und „Fortnightly Revue“. In diesen Zeitschriften gab es eine Diskussion mit Argumenten für und gegen das Frauenwahlrecht (vgl. Cosmopolis 3 [1896]: 544). Diese gegenseitige Rezeption über Länder- und Sprachgrenzen hinweg war typisch für die Kulturzeitschriften der Jahrhundertwende. Doch Helene Lange beachtet in ihrem Artikel nicht nur Debatten, die in internationalen Periodika geführt werden. Ihr ganzer Beitrag verfolgt eine internationale Perspektive und ist daher in der „Internationalen Revue“ „Cosmopolis“ bestens aufgehoben: Lange verweist auf Verhandlungen des britischen Parlaments über das Frauenwahlrecht (vgl. Cosmopolis 3 [1896]: 545), behandelt das Frauenwahlrecht in Wyoming und Neuseeland (vgl. Cosmopolis 3 [1896]: 548) und schreibt über die Vorreiter-Entwicklungen in „England, Amerika, und einigen nordischen Reichen“ (vgl. Cosmopolis 3 [1896]: 553). So kommt sie zu dem Ergebnis, dass der Zeitpunkt der Einführung des Frauenwahlrechts „in den verschiedenen Ländern ein sehr verschiedener sein wird“ (Cosmopolis 3 [1896]: 549) und dass „Deutschland mit seiner lastenden Büreaukratie, seinem Schematismus und Militarismus in dieser Frage am allerweitesten zurück ist“ (Cosmopolis 3 [1896]: 550). Später, bei der tatsächlichen Einführung des Frauenwahlrechts, sollte sich allerdings zeigen, dass das Deutsche Reich keineswegs „am allerweitesten zurück“ war.
10 Aus den Zitaten, die Lange verwendet, wird deutlich, dass sie die Forderung nach dem Frauenwahlrecht in einen noch umfassenderen Kontext einbettet, nämlich in die Beseitigung weiterer Formen der Diskriminierung im Wahlrecht. So zitiert sie den 3. Absatz der Verfassung von Wyoming: „Da Gleichheit im Genusse natürlicher und sozialer Rechte durch politische Gleichheit bedingt wird, so gewähren die Gesetze dieses Staates allen Bürgern, ohne Unterschied der Rasse und Farbe und des Geschlechtes gleiche politische Rechte.“ (Cosmopolis 3 [1896]: 549) Die Benachteiligung anderer Bevölkerungsgruppen neben den Frauen berücksichtigt sie auch, indem sie den Abolitionisten Thomas Higginson zitiert, der feststellt, dass der „white man“ die Interessen des „negro“ bei der Gesetzgebung nicht angemessen vertreten könne (vgl. Cosmopolis 3 [1896]: 541f.)[16] „Dem konsequenten Denker“, führt Helene Lange in ihrem Artikel aus, „leuchtet auch ohne Beispiel ein, dass, so wenig ein Stand für den andern, so wenig auch ein Geschlecht für das andere eintreten kann“ (Cosmopolis 3 [1896]: 541). Des Weiteren wendet sie sich gegen den Konnex, den die Kritiker des Frauenwahlrechts zwischen „Kriegsdienst und Stimmrecht“ herstellen: „Dass weit mehr Frauen in Erfüllung ihrer Mutterpflicht sterben als Männer auf dem Schlachtfelde, dürfte hinlänglich bekannt sein.“ (Cosmopolis 3 [1896]: 544). Dies schreibt Lange 1896. Seit dem Deutsch-Französischen Krieg sind 25 Jahre vergangen. Doch es musste erst ein blutiger Weltkrieg vorübergehen, bis im Deutschen Reich das preußische Dreiklassenwahlrecht abgeschafft wurde, das „einen Stand für den andern“ entscheiden ließ, und bis die Frauen zu ihrem Wahlrecht kamen – und zwar gleich im Anschluss an den Weltkrieg. Der Rat der Volksbeauftragten, die deutsche ‚Übergangsregierung‘ während der Novemberrevolution, sprach den Frauen am 12. November 1918 das Wahlrecht zu.[17] Es wurde anschließend in § 2 der „Verordnung über die Wahlen zur verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung“ vom 30. November 1918 fixiert.[18] Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 konnten damit die Frauen im Deutschen Reich erstmals auf nationaler Ebene ihr Wahlrecht ausüben. Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919 hielt dann fest: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich. Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben.“[19] In Artikel 128 hieß es: „(1) Alle Staatsbürger ohne Unterschied sind nach Maßgabe der Gesetze und entsprechend ihrer Befähigung und ihren Leistungen zu den öffentlichen Ämtern zuzulassen. (2) Alle Ausnahmebestimmungen gegen weibliche Beamte werden beseitigt.“ Darüber hinaus sind die Artikel 17 und 22 der WRV für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern von Bedeutung.[20] Helene Lange zog 1919 als Kandidatin der Deutschen Demokratischen Partei in die Hamburger Bürgerschaft ein und eröffnete als Alterspräsidentin deren konstituierende Sitzung (vgl. Wickert 1982). In Großbritannien durften Frauen uneingeschränkt ab 1928 wählen. Die Französinnen mussten bis 1944 auf das Frauenwahlrecht warten, die Schweizerinnen gar bis in die 1970er Jahre.[21] Spätestens 1919 war Deutschland also nicht mehr „am allerweitesten zurück“.[22]
11 Bis dahin ist es 1896 noch ein weiter Weg. Argumente sind nötig. Die findet Helene Lange im Gemeinwohl, in dessen Sinne das Frauenwahlrecht ihrer Auffassung nach ist. Diese Argumentation ist ein immer wiederkehrender Topos in ihrem Artikel (vgl. Cosmopolis 3 [1896]: 546–552). Im letzten Teil ihres Beitrages zieht Lange eine „conclusio“ und gibt Handlungsanweisungen: „Die Männer werden den Frauen nicht eher das Stimmrecht gewähren, als bis ihr eigenes Interesse es gebietet. Das eigene Interesse der Parlamente und Regirungen [sic] gebietet es aber dann, wenn der Hochdruck der öffentlichen Meinung darauf wirkt.“ (Cosmopolis 3 [1896]: 549). Die Frauen sollen deshalb eindringen „in die Arbeit der Gemeinden, in die Schulverwaltungen, die Universitäten, die verschiedenen Berufszweige“, dort überall sollen sie zeigen: „das kann die Frau.“ (Cosmopolis 3 [1896]: 552, Hervorh. i.O.)
12 Neben den hier referierten Argumenten enthält das Fundstück noch weitere Aspekte. So verweist Lange auf das Engagement von SPD und Arbeiterbewegung für das Frauenwahlrecht[23] und wendet sich gegen die „Damen“ des Bürgertums, die den Frauenrechten kritisch gegenüberstehen (vgl. Cosmopolis 3 [1896]: 551f.). Bei der „jüngere[n] deutsche[n] Männergeneration“ macht sie Tendenzen aus, „in der Frau […] die Mitstrebende, Mitkämpfende zu sehen“. (Cosmopolis 3 [1896]: 553). Weil sich darüber hinaus noch weitere Beiträge zu Frauenthemen in „Cosmopolis“ finden,[24] lohnt es sich, die dickbändige Zeitschrift aus den Magazinen der Universitäts- und Staatsbibliotheken hervorzuholen oder im „Gallica“-Online-Portal der Französischen Nationalbibliothek (BnF)[25] digital einzusehen – nicht zuletzt, um das Wissen um die Internationalität der Debatten der ersten Frauenbewegung und der Publikationsorte, an denen sie ausgetragen wurden, zu erweitern.
Britta Marzi
M.A., Historikerin, Studium in Berlin und Paris, 2009 Magisterarbeit über die Zeitschrift „Cosmopolis“ (1896 – 1898), derzeit Doktorandin am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, promoviert über das Theater in der Provinz anhand einer Fallstudie des Stadttheaters Krefeld (1884 – 1944)
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